Humoreske von Karl Strecker
in: „Märkischer Sprecher” - Lachpillen vom 20.5.1896
In der wertvollen Sammlung militärischer Erinnerungen, die mein Freund Kunibert — in Ermangelung anderer Räumlichkeiten — unmittelbar unter seiner etwas kahlen Kopfplatte angelegt hat, ist sein Onkel Milzwedel, der Major, unstreitig eins der merkwürdigsten Exemplare.
Wir saßen in Kuniberts Wohnung vor einer Ofenthür, die man ihrer ungewöhnlichen Größe halber Kamin zu nennen liebt. Feuer brannte zwar nicht, aber da es ein kühler Herbstabend war, so hatte der Anblick des Ofens immer schon etwas Beruhigendes. Die winterliche Stimmung hatte Kunibert, der in Bezug auf Getränke gern Reminiscenzen auffrischt, veranlaßt, einen seiner vorzüglichen Grogs zu brauen, die alle seine Bekannten mit Recht an ihm verehren. Der Regen klopfte wie leise Geisterfinger gegen die Fensterscheiben, im Ofenloch wimmerte ein gefangener Windhauch, und mein Freund ballte über dem schuldlosen Haupt seines schnarchenden Mast-Mopses finstere Wetterwolken aus Varinas Ia. — „Der Major Milzwedel,” begann Kunibert, indem er seinen Grog umrührte,„hatte drei grimmige Feinde auf dieser Erde. Einmal seine beiden Pferde, die sanfte„Dorah” und den bösen „Achilles” und dann die Felddienstordnung.
Dorah kannte infolge ihrer langen und mühevollen Laufbahn nicht nur das Gelände im Weichbild der Garnison bis in die Details, sondern war auch über die Geheimnisse der Taktik — abgesehen von Tagesfragen — aufs Beste unterrichtet. Sie wußte genau, wo in dem ihr bekannten Gelände die Vorpostenkompanie, wo die Doppelposten, wo das Gros stehen mußte, und so weit ging ihre Energie in der Durchführung taktischer Ideen, daß sie sich entschieden weigerte, die Vorpostenkette einmal weiter hinauszuschieben, als es für gewöhnlich in den dreizehn Jahren ihrer mühevollen Dienstzeit der Fall gewesen war. Ihre Selbständigkeit wahrte sie auch in anderen Situationen. wo es auf Entschlußfähigkeit ankommt.
Wollte der Major einmal seine Truppen durch eine kleine Sandheide gegen den Feind füren, so wählte Dorah das festere Stoppelfeld, riß den Major sein Ungestüm zu einem gewaltsamen Vorstoß hin, so war Dorah besonnen genug, ihn rechtzeitig von dieser Tollkühnheit zurückzuhalten, indem sie hinter einem Dornbusch — bums!— stehen blieb. Es wäre ein aussichtsloses Unterfangen gewesen, ihr begreiflich zu machen, daß man auch einen ziemlich steilen Berg sehr wohl durch einen mit Energie durchgeführten Angriff nehmen könne. Sie glaubte nicht an derartige gewagte Kunststücke. Daß der Infanterist nicht laufen soll, wo es nicht absolut notwendig ist, hielt sie für einen der verständigsten Grundsätze der neueren Kriegswissenschaft, und sie fühlte sich in diesem Punkte ganz als Infanterist. Kaltblütig im hitzigsten Nahkampf, unerschütterliche Ruhe in den schwierigsten Gefechtsmomenten waren ihr eigen, auch die blanke Waffe fürchtete sie nicht, wie sie oft genug bewies, wenn die Majorssporen einen schwachen Versuch machten, sie durch vorsichtiges Kitzeln in der Flankengegend zu einer Willensänderung zu bewegen.
Wegen aller dieser und einiger anderer Vorzüge, war Dorah noch immer gewissermaßen ein Liebling des Onkel Majors, während er sein zweites Pferd, den bösen „Achilles”, nur mit dem gemischten Fühlen eines Menagerie-Löwen betrachtete, der seinen Bändiger erblickt. Am hurtigsten war Achilles, wenn der Major ihn mit der Kandare zu halten versuchte; dann entwickelte er eine wahrhaft teuflische Geschwindigkeit: den Kopf tief zur Erde gesenkt, die Ohren angelegt, das Gebiß fest zwischen den Zähnen, den Rücken zu einem Kameelshö cker gekrümmt, so sauste er dahin, den dünnen Rattenschwanz wie ein Rad im Kreise schwingend. War er in dieser anmutigen Haltung einmal im Zuge, so gab es nichts auf dem Erdenrund, was ihn zum Stehen bringen konnie, außer der heimatlichen Stallthür, vor der er unfehlbar mit plötzlichem Ruck Halt machte und so seinem Reiter das zur Erdekommen erleichterte.
Zu den sonstigen angenehmen Eigenschaften dieses braven Tieres gehörte: ein böser Blick, ein minutenlanges Bocken nach dem Aufsitzen und ein scharf ausgeprägter Hang für Haferfelder, an denen er mit Vorliebe, sogar mitten im Trabe Rast machte, um ein paar Halme zu nehmen. Dafür hatte er eine unbezwingliche Idiosynkrasie gegen den Uebergang über Gräben, sofern keine Brücken darüberführten, oder er sie nicht durchklettern konnte; nicht minder gegen Steine im Wege, die er auf die Ungehörigkeit ihres Aufenthalts dadurch aufmerksam zu machen pflegte, daß er mit einem Vorderfuß heftig dagegen stieß.
Der Major war trotz seiner Strenge ein „guter Kerl”, und seine Gutmütigkeit zeigte er besonders darin, daß er seinen beiden „Gefechtseseln”(so nannten die Grenadiere respektswidrig genug seine Streitrosse) keineswegs böses mit bösem vergalt.
„Die Geschichte, die ich heute erzählen wollte,” fuhr Kunibert fort, indem er seinen Daumen für einen Augenblick im Pfeifenkopf verschwinden ließ,„passierte eines Tages beim Bataillonsexerzieren. Der Oberst war in dienstlichen Angelegenheiten verreist, der an sich ungefährliche Oberstleutnant war auf Entenjagd, und so hatte der gute Milzwedel Zeit und Muße, in der stillen Einsamkeit des Exerzierplatzes sein Bataillon nach Herzenslust zu tummeln. Die Sonne schien hell und warm, die Lerchen sangen, ein erfrischender, mit Heuduft parfümierter Windhauch wehte über den Platz, fern am Horizont brummte Achilles mit des Majors Burschen ab und eilte schleunigst den heimatlichen Penaten zu. Zwei gute Stunden schon hatten die damals noch üblichen Schulexerzitien gewährt, das berühmte„Avancieren in Linie” war vorüber, und eine dreimalige Schluß-Salve auf eine am Rand des Platzes weidende Schafherde hatte diese nicht in ihrem gleichmütigen Graszupfen zu erschüttern vermocht. Der Major sammelte sein Bataillon in der „Rendezvous-Formation”, um das Gefecht zu beginnen.
Dorah, das eine Ohr halb aufgerichtet, das andere träumerisch gesenkt, hielt vor dem Bataillon und dachte über die Vergänglichkeit alles Irdischen im allgemeinen, sowie über die Behendigkeit der entfliehenden Futterstunden im besonderen nach. Der Major bemerkte mit Ungeduld, daß sich in der dritten Kompanie noch immer etwas rührte.
„Jetzt muß das Bataillon stehen!... Das darf keine Ewigkeit dauern!... Ich sehe da noch eine Helmspitze wackeln! im vierten Zuge!... ich glaube am Ende gar...”
Nie hat die Nachwelt erfahren, was der Major am Ende gar glaubte, denn schon unterbrach er sich: „Herr von Bellewitz, jetzt ist keine Zeit mehr, in die Richtung zu sehen! Da hätten Sie vorher dran denken sollen!”
Durch mehrmaligen energischen Schenkeldruck und ein leises Sporenkitzeln sah sich Dorah veranlaßt, auf den Flügel zu gehen und den Vordermann zu kontrollieren.
„Der Vordermann stimmt nicht... Gehen Sie eine Idee links, der Zugführer vom zweiten Zuge! — Das wird zu viel! —— So! — Folgen Sie doch, Herr von Bellewitz! ... Ja wenn sich die Herren Zugführer nicht einmal einrichten können, dann kann das Bataillon nicht stehen .... Das ist nicht menschenmö glich .... Links! die erste Rotte im zweiten Zuge! Folgen dahinten! Links dahinten! Links!!! zum Himmeld— — Ja, Herr Hauptmann, helfen Sie doch da hinten mal! ... Ich kann doch nicht eigenhändig jeden Mann hinstellen .... Das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit.”
Dorah kannte ihren Dienst. Sie wußte, obwohl sie den Blick sinnend auf einen Grashalm gerichtet hatte, sehr wohl, ob eine Rotte stand oder nicht. Erst wenn der Major den fuchtelnden Säbel sinken ließ und sich einen Moment räusperte, war die Zeit gekommen, einen Schritt weiter zu gehen.
„Die wievielte Rotte?”
„Die siebente, Herr Major!”
„Rechts der zweite Mann in der siebenten Rotte! Sie stehen ja ne halbe Meile raus!... Das wird zu viel! Kerl, wenn ich sage, ne halbe Meile, so ist das nicht gleich ein ganzer Schritt! So — stehen! Gut die Rotte ... Diese Rotte stimmt gar nicht. Da ist ein Mann im fünften Zuge mit solchem dicken Wasserkopf, der hat keine Ahnung von Vordermann. Nicht einen Schimmer. Sagen Sie mal, Mann, was sind Sie in Ihrem Zivilverhältnis?”
„Bäcker, Herr Major!”
„So — Bäcker? Na ja. Sehen Sie wohl. Als Bäcker müssen Sie doch die Brote auch in Reih und Glied legen, nicht wahr?”
„Jawohl, Herr Major!”
„Na also.
Endlich war das„Torfpacken”, wie es im Soldatenmund heißt, beendet. Der Major wollte die Kompanieen zum Gefecht auseinanderziehen, vorher aber das Bataillon„im Ganzen” laden lassen.
„Stillgestanden!” — Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte das Kommando den Bataillonskörper. Auf ein Tempo wurden die Beine aneinandergerissen und der Körper aufgerichtet. Nur Dorah machte eine Ausnahme, sie ruhte phlegmatisch das rechte Hinterbein.
„Kein Auge im Kopf darf sich mehr rühren! ... So—o! stehen! .. Bataillon — soll — char—gie-ren — gladen!!”
Die Gewehre flogen von den Schultern, ein lautes Rasseln der „Kammern” —— bautz! ging ein Schuß im vierten Zuge los.
Der Major schäumte. Kirschrot vor Wut jagte er der unschuldigen Dorah beide Sporen in die Flanken, so daß sie entsetzt aufschrie.
„Wer war das?” rief er, indem er auf den vierten Zug losritt, mit Stentorstimme.„Wer war der Kerl? Drei Tage Arrest. Sofort heut Mittag abzuführen, Herr Hauptmann!”
„Zu Befehl, Herr Major.”
„Das ist doch unerhört. Noch jetzt, mitten im Sommer, können die Leute nicht einmal laden, ohne daß ein Kerl losbollert. Ja, meine Herren — das ist sehr traurig.”
„Gewehrrr! — ab! Rührt Euch! Die Herren Offiziere und Zugführer!” Damit ritt er kopfschüttelnd fünfzig Schritt abseits und machte dort Halt, um die Offiziere und Feldwebel, die sich von dem Bataillonskörper loslösten, zu erwarten. Dorah betrachtete träumerisch die Merkwürdigkeiten eines Maulwurfshausens zu ihren Füßen.
„Meine Herren,” begann der Major seine denkwürdige Rede — „das ist doch ein unerhörtes Stück! Ich muß Ihnen offen gestehen: mir ist es unbegreiflich, wie so etwas noch vorkommen kann. Ist mir vollständig rätselhaft. Ja — ich kann mir nicht helfen: das liegt an mangelhafter Instruktion, meine Herren Hauptleute.”
Da hier die Hauptleute ein Gesicht machten, als ob sie anderer Meinung wären, fuhr der Major, heftiger werdend, fort: „Wie gesagt, mir ist es vollständig schleierhaft, wie so etwas passieren kann. Ich weiß gar nicht, wie der Mann das angefangen hat. Das muß an mangelhafter Instruktion liegen, anders ist es nicht möglich. Ja, meine Herren, Sie haben doch Ihre Offiziere und Unteroffiziere dazu; lassen Sie die doch instruieren. Die Sache ist doch so einfach, daß sie dem dümmsten Kerl begreiflich gemacht werden kann. Geben Sie mal ein Gewehr her.”
„Ein Dutzend Unteroffiziere sprangen eilfertig hinzu, ein bärtiger Vize-Feldwebel brachte ein Gewehr herbei und reichte es dem Major aufs Pferd.
„Es muß dem Mann nur überzeugend klar gemacht werden. — Sehen Sie her, meine Herren, und sagen Sie selbst, wie ist es mö glich, daß der Mann losschießt? — Jetzt hat der Mann das Gewehr in der Hand. So. Jetzt dreht er den Sicherungsflügel herum. So.”
„So” — fuhr Onkel Milzwedel dozierend fort, ohne zu bedenken, daß er das Gewehr in gesichertem Zustande bekommen hatte —„jetzt kann gar nichts passieren. Sehen Sie her. Jetzt kann der Mann das Gewehr über haben oder Gewehr ab, er kann an die Kammer fassen, an den Abzug — —”
Bautz! ging in diesem Moment der Schuß los, der träumenden Dorah zwischen den Ohren durch....
Dorah konnte viel vertragen. Sie war, wie bekannt, im hitzigsten Gefecht die Ruhe selbst, aber diese Tücke war ihr denn doch zu stark! Hintenausfeuern und einen wilden Satz zur Seite machen, war das Werk eines Augenblicks. Das noch rauchende Gewehr weit von sich streckend, klammerte sich der erschreckte Major krampfhaft am Sattel fest. Aber Dorah war heute nicht wiederzuerkennen. Solche heimtückische Ueberraschung war ihr doch zu bunt! Sie bockte mit einer Virtuosität, die selbst ihren Stallgenossen Achilles zur Anerkennung gezwungen hätte. Dem Major blieb, um sein wildgewordenes Roß an einem Racheakt zu hindern, nichts anderes übrig, als das Gewehr an die Erde zu werfen und in die Mähne zu greifen.
Du kannst Dir unsere Gesichter denken! Ein halbes Jahr lang haben wir im Kasino von nichts anderem gesprochen, als von dieser Instruktionsszene des Major Milzwedel, dem es „unbegreiflich” war, daß „dem Mann ein Schuß losgehen” könne ... Und mich haben sie auch noch geuzt!
Der gute Onkel Major! Diese Geschichte und seine Thaten im folgenden Manöver besiegelten sein Geschick: er erhielt ein Bezirkskommando in Schlesien. Jetzt deckt ihn auch schon der grüne Rasen ... im Sommer vor einem Jahr haben sie ihn begraben. Ein guter Kerl wars doch, und im Feldzug — hätte er seinen Mann gestanden.”
Kunibert schwieg hier und versenkte in stiller Rührung seine matt glühende Nase längere Zeit in das Grogglas.
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